5. Oktober 2020 | mona kino

Herausfordernde Kinder, herausfordernde Lehrkräfte, herausfordernde Menschen

Im Rahmen der Vorbereitung für einen Workshop fragte ich mich, was herausfordernd sein eigentlich bedeutet. Gibt es das überhaupt? Ist das jemand, der in der Nase bohrt, schlecht riecht oder jemand mit einer Behinderung? Jemand, der aggressiv ist, der eine andere Hautfarbe hat oder laut spricht? Und dann dachte ich, an die ehemalige Kunstlehrerin unserer Tochter. Sie war für mich eine echte Herausforderung! Nicht nur wegen ihrer theatralischen Frisur.

Das Lieblingsfach unserer Tochter war (und ist) Kunst. Doch eines Tages saß sie tränenüberströmt bei uns am Küchentisch: „Mama, nie wieder will ich malen!“ Auf Nachfrage sagte sie: „Ich habe eine Sechs in Kunst. Nie wieder, hörst du.“ „Okay, ich höre das. Aber magst du mir noch sagen weshalb du die Sechs bekommen hast?“ „Ich habe meinen Tuschkasten vergessen.“ Ich war verwirrt: „Aber wieso gibt es denn dafür eine Sechs?“ Und ergänzte (es war noch vor Corona): „Da kann man sich doch mit den Mitschüler*innen zusammen an einen Tisch setzen?“ „Ich weiß es nicht.“ 

Da ein paar Tage später Elternsprechtag sein sollte, sagte ich unserer Tochter, dass ich gern mit ihrer Lehrerin über die Sechs sprechen möchte. Den Kopf heftig schüttelnd lehnte sie ab. Sie hatte Sorge, dass die Lehrerin sie dann noch weniger mögen würde. Ich verstand: Sie fürchtete, dass ich zu impulsiv reagieren würde. Etwas, das mir durchaus schon passiert ist. Denn ich bin empfindlich, wenn jemand meinen Kindern etwas antut, was sie verletzt. Ich fühlte mich zugleich über Bande kritisiert; denn war nicht ich aus Sicht der Lehrerin daran Schuld, dass unsere Tochter den Tuschkasten vergessen hatte? Hätte ich sie als gute Mutter nicht daran erinnern müssen?

Ich versprach unserer Tochter, dass ich mich in dem Gespräch nur darauf fokussieren wolle, die Perspektive der Lehrerin zu hören, ohne sie zu bewerten. Einfach, um zu verstehen, was sie dazu veranlasst, Sechsen auf vergessene Tuschkästen zu vergeben. Und ich bot ihr an, dass sie mir, wenn ich ihr zu heftig werden würde, unter dem Tisch auf meinen Fuß treten dürfe. „Okay“, sagte sie und ließ sich darauf ein. 

Meine Antwort auf die Eingangsfrage ist also: Es gibt eigentlich keine herausfordernden Kinder, Lehrerinnen oder Eltern, sondern nur herausfordernde Situationen. Noch immer werden in der Schule Noten als Lob und Strafe eingesetzt, um erwünschtes Verhalten zu bestärken oder unerwünschtes Verhaltenauszulöschen. Wissenschaftliche Studien aus dem Bereich der Verhaltentherapie belegen jedoch, dass dieses so genannte operante Konditionieren das unerwünschte Verhalten nicht dauerhaft auslöscht und das erwünschte Verhalten nicht dauerhaft etablieren kann. Ich bin der Überzeugung, dass man am besten darauf verzichtet. 

Da ich in einen Newsletter einmal die Frage gelesen hatte: „Wer ist die erste Person, die von deinem Hass betroffen ist?“ „Du bist es!“ spornte mich das zusätzlich an, dieser Lehrerin, die meiner Tochter eine Straf-Sechs gegeben hatte, zunächst einmal „nur“ zuzuhören, was sie damit eigentlich erreichen will. In den fünf Minuten vor diesem Gesprächstermin sagte ich mir deshalb leise vor: „Offenheit, Wohlwollen, Neugier. Offenheit, Wohlwollen, Neugier.“

Die Lehrerin erzählte, dass sie Sechsen vergibt, um sich Respekt und die Wertschätzung der Kinder zu sichern. Und sie äußerte zum Abschied großes Erstaunen, dass ich sie nicht belehrt hatte, dass man das so nicht mache. Ich könne mir nicht vorstellen, was sie sich schon alles von Eltern habe anhören müssen, und das abends um 20 Uhr, lange nach Dienstschluss. Die Sechs jedenfalls, die unsere Tochter bekommen hatte, werde gelöscht, wenn sie zweimal den Tuschkasten dabei hätte. Meine Tochter strahlte. So einfach konnte sie die Sechs wieder los werden? „Hätten Sie mir das gleich gesagt, dann hätte ich nicht soviel Angst gehabt.“ Da staunte die Lehrerin das zweite Mal: „Echt, du hast Angst gehabt? Das wusste ich nicht. Ich hatte mal einen Schüler, dem habe ich sechsunddreißig Sechsen gegeben – und das hat gar nichts genutzt.“ Lachend gingen wir auseinander.

Die Atmosphäre zwischen unserer Tochter und ihr entspannte sich zunehmend und bis zum Ende des Schuljahres hatte sie wieder soviel Spaß am Malen wie vorher.

Und während ich das heute aufschreibe, merke ich, dass nicht nur meine negativen Gefühle anderen gegenüber als erstes wieder bei mir landen, sondern auch die positiven Gefühle: Auch die Neugier, die Offenheit und das Wohlwollen, mit denen ich der Lehrerin im Gespräch begegnete, kamen zu mir zurück.

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Mona Kino
Drehbuchautorin, Familientherapeutin und Supervisorin
Vermittlungs- und Presseteam bei Empathie macht Schule

Titelphoto: „Braided Rose Hairstyle Transforms Ordinary Locks Into a Beautiful Blooming Updo“ von Daily LOL Pics, lizensiert unter CC BY 2.0.