16. März 2022 | mona.kino

„Ich nehme immer unsere eigene Medizin“ Interview mit Helle Jensen

Empathie macht Schule: Liebe Helle, Corona war für Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen die letzten zwei Jahre anstrengend, aber das war es ja auch für Dich, oder? 

Helle Jensen: Ja. Als Corona so plötzlich da war und alle während des ersten Lockdowns zu Hause bleiben mussten, war es zwar erst mal ein bisschen so wie ein extra Urlaub. Da war beispielsweise Zeit aufzuräumen, aber das hat sich dann ganz schnell geändert, weil ja klar war, dass wir den Beginn von Empathie macht Schule aufrecht erhalten wollen. Und dann haben wir fast jede Woche neue Pläne  gemacht, wie man die Treffen für die sechs Module der ersten Kohorte, so organisieren kann, dass wir uns an die Regeln halten und unseren Qualitätsanspruch beibehalten. Und das war viel Arbeit, weil sich ja ständig alles geändert hat. Obwohl ich es sehr mag, wenn ich mir neue Settings ausdenke.  Aber was für mich dabei neu war, war das, was ich bei  den Teilnehmer:innen gesehen und gespürt habe: Diese totale Überforderung mit dieser Situation umzugehen. Und dass ich das nicht in der Hand habe, daran etwas verändern zu können. Das war für mich unangenehm. Ich hatte ja sofort den Wunsch, das Programm so anzupassen, dass es auch mit dieser zusätzlichen Überforderung gut und richtig ist. Denn die Schulen mussten ja weiter ihre Lehrinhalte vermitteln, die Kinder weiter lernen. Und da habe ich gesehen, wie schwierig  es sein kann, den Fokus darauf zu halten, was in der Schule am wichtigsten ist: Das es den Erwachsenen in der Schule gut geht. Denn für ein gutes Lernen ist es ja notwendig, dass es dem Personal, der Schulleitung, den Pädagogen gut geht. Nur dann können sie die Kinder gut sehen und eine entspannte  Atmosphäre gestalten. 

Empathie macht Schule: Hattest Du Sorgen?  

Helle Jensen: Ja. Ich habe große Sorge gehabt, weil ja alle so gerne ihre Pflicht erfüllen wollen. Und das verstehe ich gut, das will ich ja auch. Aber in so einen Fall, wie Corona ist es ja unmöglich, die Dinge so zu machen, wie vorher, wenn die Bedingungen so anders sind.

Ich denke, dass das von der Schulverwaltung oder der Politik nicht so richtig gesehen wird, dass so ein Spagat nicht machbar ist. Alles so zu machen wie vorher und gleichzeitig so viel Neues anzuwenden. 

Das fand ich schwierig, das mit unserem Programm aufzugreifen und aufzufangen, so dass es Sinn macht, was wir vermitteln. Die Anwendbarkeit der Übungen und der Modul-Inhalte so anzupassen, sodass es sich nicht zu weit von der Realität entfernt.

Wir wollen ja in unserem Programm, dass es ein Gleichgewicht gibt, sodass die Menschen, die in der Schule arbeiten, die Arbeit so machen können, dass sie davon nicht krank werden.

Empathie macht Schule: Wie ist es Dir gelungen diese Balance zu halten? 

Helle Jensen: Ich weiß nicht, ob es mir immer gelungen ist, die Balance zu halten. 

Aber was gut war, ist, dass alle Beteiligten, wir von der Ausbildungsseite und die Teilnehmer:innen immer offen gewesen sind. Aus dem Grund ist der Abstand nicht so groß geworden, zwischen dem, was wir wollen und dem, was aktuell in der Realität passiert. Und auch dem, was wir vermitteln wollen und was die Teilnehmer:innen wollen bzw. brauchen. Darüber sind wir immer im Gespräch geblieben. 

Empathie macht Schule: Was hast du konkret gemacht, wenn es dir gelungen ist, die Balance  zu halten?

Helle Jensen: Unsere Module sind wie eine Oase für die Teilnehmer:innen. Und an den Tagen haben wir immer gut darauf geachtet, wie es den Teilnehmer:innen  jetzt gerade geht. Also wirklich zu sehen, wie kommen sie hier her, was brauchen sie heute. Denn wir haben ja immer einen Inhalt, den wir vermitteln wollen. Aber wir als Vermittler brauchen ja einen Empfänger, egal wieviel Gutes wir ihnen mitgeben wollen. Wir brauchen ja ein Gegenüber, dass uns hört und das, was wir vermitteln annehmen kann. Wir machen also genau das, was die Lehrer brauchen, wenn sie unterrichten: Zuerst dafür sorgen, dass sie die, die sie erreichen wollen, auch erreichen. 

Empathie macht Schule: Wie hast du für dich gesorgt, dass du für die  Teilnehmer:innen  in den Modulen immer wieder so da sein konntest? Also, dass du für beides da sein konntest: Für das aktuelle persönliche im Raum und die Lehrinhalte? 

Helle Jensen: Ich nehme immer unsere eigene Medizin. Das, was wir den Teilnehmer:innen vermitteln, tue ich auch für mich. Ich nehme mir auch jeden Tag Zeit für mich. Etwa in Stille sitzen, oder ruhig spazieren gehen oder ein paar Körperübungen machen. Mit der Aufmerksamkeit darauf, wie geht es mir gerade, oder wie es gerade bei mir ist, wie fühlt sich das an? Und das versuche ich jeden Tag. Für mich ist es besonders hilfreich, wenn ich auf meine Atmung achte und wie ich mit meinem Körper geerdet bin. Ich achte darauf, dass ich meinen Körper spüre, meine Füße, und wenn ich im Dialog bin, achte ich darauf, wie geht es mir gerade, was spüre ich, was fühle ich, was nehme ich wahr. So, dass ich nicht angespannt da sitze. Ich denke, dass kennen alle, wenn man sich unterhält, dass man hinterher einen Schmerz im Schultergürtel spürt oder in den Knien oder wo auch immer. Ich versuche immer beides, einen Kontakt zu mir selbst und nach Außen aufrecht zu erhalten. 

Empathie macht Schule: Wenn es anstrengend ist, wie in den letzten zwei Jahren, nimmst du dir mehr Zeit für dich oder weniger? Weil viele Menschen ja sagen, dafür habe ich beim besten Willen jetzt nicht auch nicht Zeit, mich still hinzusetzen oder einen Spaziergang zu machen. 

Helle Jensen: Ja. Ich habe mehr Ruhe gebraucht und mir am Nachmittag mehr Zeit dafür eingeplant um für mich allein zu sein oder zum Spazieren gehen. Für mehr Mediation hat es nicht gereicht. Aber für Kontemplation oder Reflexion schon – das geht ja auch im Gehen. 

Empathie macht Schule: Was sind deine Lieblingsübungen? 

Helle Jensen: Die Fahrstuhl-Übung

Und die Pause spüren – die zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen – oder zwischen den Gedanken. Weil das ist ganz einfach anzuwenden und kann ich überall machen. Auch im Supermarkt an der Kasse. 

Empathie macht Schule: Wie geht es dir jetzt, wo die zweite Kohorte mit dem Training beginnt? Die Leute sind coronaerschöpft, und die nächste Variante könnte kommen. Ist es unsicher, dass die zweite Kohorte so beginnen kann, wie es mal ursprünglich geplant war? 

Helle Jensen: Nein. Ich denke, wir können diesmal so beginnen wie wir uns das wünschen. Der einzige Unterschied ist, dass die Teilnehmer:innen seit zwei Jahren noch mehr überfordert sind. Und da ist es besonders wichtig, dieses Momentum, dieses JETZT FANGEN WIR AN zu nutzen. Und wenn sich dann doch wieder alles ändern sollte, wie vor  zwei Jahren, dann werden wir sehen, wie wir diesen Moment halten und einbinden können. 

Empathie macht Schule: Bereitest du dich auf diesen Moment besonders vor? 

Helle Jensen: Ja, ich denke ich bereite mich besonders vor. Wir hatten einen sehr schönen ersten Durchlauf, trotz aller Unwägbarkeiten. Wir hatten so tolle Teilnehmer:innen und so ein gutes Ergebnis. Ich kann mich jetzt aber nicht nur entspannen. Ich will auch fokussiert sein. Also fokussiert auf die Erschöpfung der neuen Teilnehmer:innen und zugleich offen und entspannt in die Arbeit zu gehen, darauf bereite ich mich vor. 

Empathie macht Schule: Du hast mal gesagt, dass man sich das Vorhersehbare vorbereiten kann, auf das unvorhersehbare nicht. Corona ist ja so etwas Unvorhersehbares. Gibt es etwas, womit du dich auf das Unvorhersehbare vorbereitest? 

Helle Jensen: Mit Präsenz. Ich sage mir immer, nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Denn dann geht meine Fokussierung verloren. Wie ich schon sagte, das Beste für mich ist, so entspannt und offen wie möglich und gleichzeitig fokussiert da zu sein. Das hilft mir, um mit dem Unvorhersehbaren umzugehen. In neuen Gruppen kann ja immer etwas Unvorhersehbares passieren. Und das ist auch etwas, was mich wach hält und was ich interessant finde. Für mich ist es nicht interessant, wenn alles immer gleich ist. Veränderungen sind gut. Und für mich ist diese Veränderung durch Corona ganz besonders, denn es kommt ja darauf an, wie wir in Zeiten der Veränderung miteinander umgehen. Unser Arbeitsfeld ist ja nur ein kleiner Teil der Gesellschaft. Und ich habe in der Gesellschaft erlebt, dass die Polarisierung in den zwei Jahren viel stärker geworden ist. Für mich ist es fast eine Lebensaufgabe: Keine Polarisierung! Also ist es wichtig, immer im Gespräch zu bleiben, wenn sich etwas verändert. Wir sind Gesellschaften, Deutschland, Dänemark oder wer auch immer, die Raum für alle haben sollen. 

Empathie macht Schule: Ein Tao-Sprichwort sagt, man kann sein eigenes Spiegelbild nur in stillem  Wasser sehen, nicht wenn es fließt. Ist das, das was die Übungen von Empathie macht Schule bewirken: Stilles Wasser?

Helle Jensen: Ja, das ist unsere Absicht. Diese ruhigen Hier-und-Jetzt Momente zu schaffen. Das ist ein schönes Bild dafür. Wir versuchen dieses stille Wasser zu schaffen. Und das heißt ja wirklich nur still zu sitzen und nichts zu tun. Wenn Du versuchst, das Wasser zu frisieren, dann macht es ja Wellen. Und dann kommt immer wieder eine neue Welle. Bis alles in Ruhe oder einer Art von Gleichgewicht ist, solange geht nur Innehalten. 

Empathie macht Schule: In dem Durcheinander der letzen zwei Jahre, gab es da auch etwas schönes?

Helle Jensen: Das Schönste ist, den Menschen begegnet zu sein. Wenn ich mit einem der Teilnehmenden in Kontakt war, war das ein großes Geschenk. Und das ist mir sehr oft passiert. 

Empathie macht Schule: Und was war das Schwierigste?

Helle Jensen: Das Schwierigste war, mit den Schulen in Kontakt zu bleiben. Nicht nur mit den Experimental-Schulen, auch mit den Kontroll-Schulen, die ja auch Teil der Studie sind. So in Kontakt zu bleiben, dass die Datenerhebung für unsere Forschung die nötigen Daten bzw. Antworten auf unsere Fragebögen bekommen hat. Natürlich ist es verständlich, wenn so viel los ist, wie in den letzten beiden Jahren, dass das untergeht, und trotzdem ist es wichtig. Und ich weiß noch nicht genau, wie wir die TN und die Schulen darin in Zukunft am besten unterstützen können.

Empathie macht Schule: Was war das Leichteste für Dich?

Helle Jensen: Neue Ideen zu bekommen und damit herum zu spielen, so dass das, was ich mir gewünscht habe, doch geht. Das macht mir Spaß. Nicht, dass ich mir das genauso nochmal wünsche, aber das ist mir leicht gefallen. 

Empathie macht Schule: Gibt es etwas, was du den Lehrer:innen Eltern und Schüler:innen für dieses Jahr sagen möchtest? 

Helle Jensen: Seid entspannt. Versucht nicht immer alles richtig  zu machen. Ein bisschen dänische Lockerheit, wenn das geht. 

Empathie macht Schule: Welche Übung würdest du ihnen für diese Gelassenheit empfehlen? 

Helle Jensen: Die Gedanken entspannt fliegen lassen. Ohne etwas mit ihren zu machen, nur zuzugucken,  und auf die Pausen zwischendrin achten. Fünf Minuten am Tag, das geht. Davon geht die Welt nicht unter, wenn ich mir die nehme. Das kann man auch auf einer Wiese machen, jetzt im Frühling. Und einfach den Wolken dabei zusehen, wie sie sich verändern. Die kann man ja auch nicht ändern, sondern einfach nur sein lassen. 

Empathie macht Schule: Danke für dieses Gespräch. 

Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch wurde vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine geführt. Aus diesem Grund bezieht sich das Gespräch nur auf die Zeit die davor. 

Titelphoto:Thomas Rosenthal