8. Juni 2021 | johanna etzold

Nutzen wir unsere Freiräume: Was wirklich wichtig ist

Ich habe neulich im Radio einen Beitrag über die Situation von Kindern und Jugendlichen im Lockdown gehört, der mich sehr berührt hat: von Kindern, Jugendlichen, die auf sich gestellt sind, deren Eltern sie schulisch nur schwer unterstützen können und die aufgrund von großen Lücken im Wissensstand vom Gymnasium abgehen mussten und die von ihrer Einsamkeit erzählt haben. Es mehren sich Zeitungsartikel zur Situation der Kinder in der Krise, die zeigen, dass Angst und Depressionen zunehmen und dass diese Zeit nicht spurlos an den Kindern vorbeigehen wird. Dabei wird eine weitere Ungerechtigkeit sichtbar: die Rolle des Elternhauses. Kinder, Jugendliche, die schon vor der Krise abgehängt waren, die wenig Unterstützung durch ihre Eltern erfahren, die haben, so scheint es jetzt, kaum noch eine Chance, hinterherzukommen.

Ich mache mir in dieser Zeit immer wieder Gedanken über unser Schul-, unser Bewertungssystem. Wie viel Fachwissen müssen wir vermitteln? Und welche anderen Kompetenzen braucht es jetzt? Und was machen Noten mit den Kindern? Ich erlebe häufig, dass Kinder sich vergleichen mit anderen. Bist du besser als ich? Was hat er für eine Note? Selten geht es um einen individuellen Vergleich, Noten enthalten fast immer einen sozialen Vergleich – aus dem Vergleich mit Anderen werden Informationen über das eigene Selbst abgeleitet. Für die Kinder, die mit einer 1 oder einer 2 auf dem Zeugnis nach Hause gehen, passt das. Kinder jedoch, die eine 3 oder 4 bekommen, demotiviert diese Note meist. Als Ansporn dient eine schlechte Note nur den wenigsten.

Und was bringt es, Fachwissen anzuhäufen, auswendig zu lernen für einen Test, um danach alles wieder zu vergessen? Zu oft noch fällt mir da das Bild eines großen Trichters ein, der über der Schule schwebt. Da wird auch jetzt ununterbrochen Wissen hineingegossen. Mit Blick auf meine eigene Schullaufbahn zweifle ich oft an den Inhalten, die da über Jahre in mich hinein und meist auch nur durch mich hindurch flossen.

Viel wichtiger finde ich es, den Kindern zu vermitteln, wie sie an Wissen gelangen. Ihnen zu ermöglichen, selbständig Projekte zu bearbeiten, sich mit umfassenden, fächerübergreifenden Themen zu beschäftigen, eigenen Ideen nachzugehen. Visionen zu entwickeln, und seien sie noch so utopisch. In der Corona-Zeit zeigt sich, dass die Kinder im Vorteil sind, die aus eigener Motivation lernen, die niemanden brauchen, der ihnen sagt, wann sie was zu machen haben. Kinder, die ihr Lernen selbst planen, die ihre Themen selbstständig bearbeiten können, kommen meines Erachtens besser durch solch eine Krise.

Natürlich gibt es den Lehrplan, der uns einen Rahmen vorgibt. Vielleicht sollten wir ihn wirklich als einen Rahmen begreifen, der uns Freiräume lässt, die wir ausgestalten können. Das Wie können wir selbst gestalten. Nutzen wir die Krise als Entwicklungsmöglichkeit. Schauen wir, was wirklich wichtig ist, was Kinder und Jugendliche brauchen und wobei wir sie unterstützen können.

Und ja, wir Lehrenden, Lehrerinnen und Lernbegleiter – wir brauchen Vertrauen! Aus Kindern wird nicht mit unsere Hilfe etwas – sie sind schon von Anfang an jemand. Wir können sie dabei begleiten, gemeinsam mit ihren Eltern.

portrait Johanna Etzold

Johanna Etzold
Lernbegleiterin, Psychologin und Mutter von drei Kindern
Vermittlungsteam von Empathie macht Schule

Titelphoto: Hella Dietz