4. Juli 2022 | mona.kino

Über Noten, Holzbeine und das, was zählt

Endlich Notenschluss. Ein langes Schuljahr liegt hinter uns. Bei den meisten prägen Wandertage und Klassenfahrten den Alltag, Filme schauen statt Hausaufgaben vorzeigen. Und das ist auch gut so. Die Entspannung tut uns allen gut. Kindern, Eltern, Lehrern und Lehrerinnen. Denn wir haben nicht nur ein relativ „normales“ Schuljahr ohne Lockdown hinter uns, nein, wir haben ein Schuljahr hinter uns, in dem wir oft versucht haben, so zu tun, als hätte es davor kein Home-Office-Teaching gegeben, was allen über den Kopf gewachsen ist. Jetzt aber gibt es Zeugnisse. Über die sich, meinem Empfinden nach, viel zu oft Sorgen gemacht werden.

Ich erinnere mich noch gut, als ich in die erste Klasse gekommen bin. Ich hatte eine Truppe lustiger, kleiner Freunde und Freundinnen um mich herum: Sissi, Tommy, Natascha und Jasmin. Unsere Eltern fuhren uns reihum mit ihren Autos in die Schule. Das war die Zeit, in der es noch keine Sicherheitsgurte gab und sechs Leute in einem Auto fahren durften: vier Kinder auf dem Rücksitz und eins vorne auf dem Beifahrersitz. Wir lernten die unterschiedlichen Autos kennen: Zum Beispiel einen Citroen DS, den die Hydraulik sanft aus seinem Schlafmodus weckte, was uns zutiefst beeindruckte und mucksmäuschenstill zuhören ließ. Wenn wir hingegen in einem zu Höchstleistungen fähigen roten Flitzer saßen, in dem uns im Sommer bei offenem Verdeck die Haare um die Gesichter flogen, schrien wir vor Freude. Wir lernten, dass alle mal vorne sitzen dürfen – das hatten wir untereinander ausgemacht, auch wenn das morgens manchmal zu ersten Schubsereien führte. 

In der Schule hingegen war mir langweilig. Obwohl ich zwei sehr nette Klassenlehrerinnen hatten, guckte ich oft aus dem Fenster und träumte von der Fahrt oder guckte lieber voller Neugier auf das, was meine Mitschüler und Mitschülerinnen rechts und links von mir machten. Immer öfter musste ich mit einem Oktavheftchen, in das eigentlich unsere Hausaufgaben notiert wurden, zum Direktor gehen und mir eine Unterschrift geben lassen – meist mit einer oder einem aus meiner Freundesgruppe. Ich war froh, dass ich nicht alleine gehen musste. Nicht, weil der Direktor ein strenger Mann gewesen wäre, nein, im Gegenteil. Aber er hatte ein Holzbein und ein sehr, sehr dunkles Direktorenzimmer, für das wir über den Hof gehen mussten, wo die angeschlossene Oberschule war. Holzbeine kannte ich nur aus Märchen. Irgendwann fragte ich ihn, „Sag mal, Herr Direktor, was ist das?“ Ich erinnere nicht mehr, was er gesagt hat, aber ich erinnere das erschrockene Gesicht seiner Sekretärin, das in etwa ausdrückte: „So was fragt man doch nicht, Kind!“

Dann musste ich dieses Heftchen mit seiner Unterschrift drin mit nach Hause nehmen. Da ich noch nicht lesen konnte, versuchte ich im Gesicht meiner Mutter zu lesen, worum es ging. Aber sie sagte nichts. Irgendwann in diesem ersten Schuljahr sah ich sie dann beim Lesen weinen. Und das nächste, was dann passierte, war, dass ich mit ihr zusammen einem Kinderpsychologen gegenübersaß. 

Nach einer Weile schickte er meine Mutter raus. Und ich hatte noch immer keinen blassen Schimmer worum es ging. Außer, dass die Schule meinen Eltern empfohlen hatte, mich mal untersuchen zu lassen, weil ich so leicht ablenkbar war und viel im Unterricht störte. Ich musste dann malen und Puzzleteile legen, Aufgaben rechnen, Fragen beantworten. Und drei oder vier Mal wiederkommen. Beim letzten Mal drückte er mir eins dieser Spiele in die Hand, das mir besonders Spaß gemacht hatte und sagte, dass ich das gerne mitnehmen darf und so oft spielen darf, wie ich wolle. Und meinen Eltern drückte er einen Brief in die Hand und sagte: „Ihre Tochter ist sehr sensibel für Unsicherheiten bei anderen Menschen und das legt sich. Das ist eine Frage der Reife, die hat sie jetzt noch nicht. Wird sie aber sicherlich entwickeln.“

Am nächsten Montag fuhr ich wie gewohnt mit meinen Freunden und Freundinnen in die Schule. Der Gang mit dem Oktavheftchen zum Direktor war vorbei.

Wir bekamen Zeugnisse und feierten den Ferienbeginn. Eigentlich waren alle glücklich und zufrieden. Nur mein Vater nicht. Der nahm die Zensuren auseinander. Am meisten legte er Wert auf die Kopfnoten. Aufmerksamkeit, Fleiß, Ordnung und Mitarbeit, denn an den anderen gab es nichts zu bemängeln. Ich wundere mich noch heute, dass meine Mutter nicht aufstand und fragte, ob er sich nicht erinnere, was der Psychologe gesagt habe? Und nicht merke, wie sehr er die Stimmung aller damit kaputt mache und dass er sich bitte woanders aufregen soll. 

Als ich dann selbst Mutter wurde, spürte ich eine Zerrissenheit in mir. Ich konnte die Sorge meines Vaters jetzt etwas besser verstehen: Wann muss ich meinen Kindern was zu ihren Leistungen sagen? Und wann muss ich meine Kinder einfach laufen lassen? Ihnen vertrauen, dass sie die Dinge in ihrem Tempo schon lernen werden, wie ich? Und anerkennen, dass sie auch im Alltag ganz nebenbei Dinge lernen und nicht nur in der Schule. So wie wir damals in den Autos etwas über Motoren und Technik und Sozialverhalten lernten, lernte mein Sohn mit Fußballer-Tauschkärtchen lesen und rechnen – und wie man damit umgehen kann, wenn es beim Tauschen hoch her geht und manche Träne fließt.  

Deshalb möchte ich heute allen am Mittwoch einen schönen Zeugnistag wünschen. Einen, der feiert, was wir alle in diesem Jahr geleistet haben: mit Maske, ohne Maske, vielen Krankenständen, viel Ausfall oder der einen oder anderen nicht zufriedenstellenden Note. Dass wir uns auch an den Spaß erinnern, den wir im letzten Jahr bei den- oder trotz- der vielen Hürden und Hindernissen erlebt haben. Lasst uns auf den Kraftakt anstoßen, der hinter uns liegt. Nehmt die Noten nicht so wichtig. Und lasst uns alle den Kindern dafür danken, dass sie bei dem ganzen Wirrwarr (wieder einmal) so gut mitgemacht haben. 

Mona Kino
Drehbuchautorin, Familientherapeutin und Supervisorin
Vermittlungs- und Presseteam bei Empathie macht Schule

Titelphoto:Mona Kino