1. September 2020 | klemens roethig

„Was habe ich erlebt…“

Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Termin und denke an das, was meine Arbeit heute wahrscheinlich schwierig machen wird. Ich muss auf die Fahrbahn ausweichen, um ein Auto zu überholen, das vor einer Baustelle auf dem Radweg geparkt hat. Erst als ich wieder auf meine Spur zurückkehre, können die anderen Autos an mir vorbei. Ein Kleintransporter bremst ab, als er auf gleicher Höhe ist wie ich und lässt das Fenster runter. „Eh! Kann ick dir ma‘ ’n Lob aussprechen?“ Völlig überrascht schaue ich den kräftigen Mann mit Bart und Tattoos an. „Du bist eena der wenigen Radfahrer, die die Hand beim Überholen raushalten!“ Ich hebe den Arm als Zeichen dafür, dass es angekommen ist, er tut das Gleiche und fährt weiter.

Mir fällt auf, dass sich meine Stimmung verändert hat. Ich bin plötzlich gut gelaunt und fahre zuversichtlicher zu meinem Termin. Was ist bloß passiert? Ein fremder Mann hat mich im Straßenverkehr gelobt und das rettet meinen Tag? Ich kann es nicht fassen, zumal ich ein sehr kritisches Verhältnis zum Loben habe. Vielleicht war ich positiv überrascht, weil ich aus Erfahrung eher damit rechne, im Verkehr angemeckert zu werden? Auf alle Fälle rührt es mich, wenn jemand so freiwillig und freigiebig auf mich zukommt. Es gibt mir das Gefühl, dass ich es wert bin, dass jemand Kontakt zu mir aufnimmt. Aber das ist vielleicht nur meins…

Ein paar Straßen weiter finde ich heraus, was mich wirklich froh gemacht hat: Es war freundlich. Ich muss daran denken, wie wir uns während der Vorbereitung auf das Projekt Empathie macht Schule die Frage gestellt hatten: Was bewegt mich, bei dem Projekt mitzumachen? Ich hatte gerade den Film „Systemsprenger“ gesehen und meine Überlegungen gingen dahin, wie man die Werte Authentizität, Verantwortung und Gleichwürdigkeit in der Beziehung von Fachleuten und Kindern vermitteln kann. Als unsere Projektleiterin Helle Jensen an der Reihe war, sagte sie einfach: „Ich wünsche mir mehr Herzlichkeit in der Schule“.

Seit ungefähr zwei Jahren praktiziere ich einmal pro Woche in einer kleinen Gruppe von Kolleg*innen eine kurze Dialogübung mit dem Namen Was habe ich erlebt?Wir erzählen etwas aus dem Alltag, hören zu und erforschen kurz unsere eigenen Reaktionen. Als ich neulich von meiner Begegnung im Straßenverkehr berichtete, habe ich noch intensiver gemerkt, wie gut sich Freundlichkeit und Herzlichkeit anfühlen. So, dass ich am liebsten laut rufen wollte: „Bärtiger, tätowierter Kleintransporterfahrer, ich danke dir und wünsch dir gute Fahrt!“

portrait Klemens Röthig

Klemens Röthig
Familienberater und Pädagoge
Vermittlungsteam von Empathie macht Schule

Titelphoto von privat