Dieses Interview hat Maxi Leinkauf im April 2021 über Zoom mit Helle Jensen und Christine Ordnung geführt, eine Kurzfassung ist unter dem Titel „Enge im Kiefer“ (https://www.freitag.de/autoren/maxi-leinkauf/enge-im-kiefer) in der Wochenzeitung „der Freitag“ erschienen.
der Freitag: Im Februar 2020 sollte Ihr Projekt, Empathie an die Schulen zu tragen, auch in Berlin losgehen, da war eine Studie (Uni Bielefeld) erschienen, die besagte, dass wir alle zu Egoisten geworden sind. Ein Fünftel der Kinder würde sich nicht mehr dafür interessieren, was andere fühlen oder denken, kein Mitgefühl zeigen. Es fehle an Gemeinsinn: „selber schuld, wenn Du in der Schule nicht mitkommst“. Warum braucht Schule mehr Empathie? In Dänemark gibt es das ja schon lange, seit den 1990er Jahren.
Christine Ordnung: Schule wurde im Hinblick auf zeitgemäße Pädagogik lange sehr vernachlässigt. Da hängen die Strukturen sehr im alten Paradigma. Die Idee war, Kinder so zu erziehen, dass sie kooperieren, einen Gemeinschaftssinn erst entwicklen. Heute wissen wir, dass sie den Gemeinschaftssinn eigentlich mitbringen. Damit müssen wir komplett umdrehen, wie wir Kindern begegnen. Ich weiß nicht genau wie Egoismus definiert wurde in der Studie. Ich halte es für sehr wichtig, dass Kinder in ihrer persönlichen Integrität gesehen werden, persönliche Verantwortung lernen, ihr Selbstgefühl sich weiterentwickeln darf. Und Schule hat über Jahrzehnte, über Jahrhunderte, dagegen gearbeitet.
Helle Jensen: Ich empfinde mehr so eine Gehorsamskultur, wenn ich in Deutschland bin. Ich habe ganz viel in Deutschland unterrichtet: Es war nicht so wichtig, ist es für viele immer noch nicht, was für ein Mensch das Kind eigentlich ist. Und wenn ein Kind nicht gesehen wird, dann kommen solche Reaktionen, die das als Egoismus bezeichnen. Wenn zum Beispiel ein Kind Schwierigkeiten hat, mitzukommen in Deutsch und dann macht es Dinge, die nicht so förderlich für die Stunde sind, dann wird es nicht mit seinen Problemen gesehen, sondern bekommt Schimpfe, weil es sich nicht so benimmt wie es erwartet wird – und was für die Lehrer gut ist. Weil sie ja Wissen vermitteln wollen. Und dann ist das Kind unsichtbar in seiner Not. Dann kommt diese Egal-Haltung: „ich mache, was ich will“. Das hat nichts damit zu tun, dass das Kind egoistisch ist, vielmehr wird es nicht ernst genommen und versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Christine, Du hast Integrität gesagt. Wenn die verletzt ist – und niemand sieht, dass das Kind in Not ist, dann will es protestieren.
der Freitag: Lehrer sollen die Kinder wahrnehmen und als Menschen sehen.
Helle Jensen: Ja, nicht nur als Schüler, die Lehrstoff aufnehmen sollen. Wir wollen, dass die Lehrer verstehen, dass sie das Kind auf einer anderen Ebene behandeln müssen und nicht nur schimpfen. Dann kommt von den Kindern auch eine ganz andere Reaktion. Keine egoistische, sondern eine emphatische.
Christine Ordnung: Sie sollen sie freundlich wahrnehmen. Es ist ja auch eine Art von Wahrnehmung, wenn Lehrer sagen: „Das Kind stört“. Sie sollten sie auf einer anderen Ebene behandeln und nicht nur schimpfen. Dann kommt von den Kindern auch keine egoistische, sondern eine emphatische Reaktion.
der Freitag: Warum fällt das Lehrern oft schwer?
Christine Ordnung: Um Kinder freundlich wahrzunehmen, brauche ich in mir als Erwachsener auch die Fähigkeit dazu. Viele sind selber zum Gehorsam erzogen worden, viel mit Kritik, Belehrung und viel Bestrafung aufgewachsen. Es hilft ein bisschen Wissen, um mich anders zu verhalten, aber vielmehr brauche ich selber das Erlebnis, wie es sich anfühlt, dass mir anders begegnet wurde. Dann kann die Fähigkeit von Empathie entstehen.
der Freitag: Jeder weiß, wie gestresst viele Lehrer sind, unter Druck, sie müssen den Stoff durchbringen, Hauptsache es ist ruhig im Unterricht. Gibt es da überhaupt genug Raum, um sich intensiv mit jedem einzelnen Schüler zu beschäftigen?
Helle Jensen: Ich sehe diesen Raum schon. Es braucht nicht mehr Zeit, einem Kind mit Anerkennung entgegen zu kommen und nicht mit Schimpfen. Und der Output kommt so viel schneller. Es geht darum, ein anderes Menschenbild zu bekommen. Viele Pädagogen haben das nicht gelernt.
Christine Ordnung: Wir stecken so fest in diesem Erwachsenen-gegen-Kind-Modus. Ich glaube nicht, dass es aus einer bewussten Haltung heraus geschieht. Lehrer machen ihren Job gern, aber sie haben Unterrichten gelernt – mit Beziehungskompetenz gibt es so wenig Erfahrungen. In unserem Projekt kann man sehen, wie schnell sich etwas verändern kann, wie durch einen Dialog eine Begegnung möglich wird.
der Freitag: „Empathie macht Schule“ heißt das Projekt – Vorbild ist Dänemark, wo es Empathie als Schulfach gibt. In Deutschland existieren so genannte Verfügungsstunden, da werden dann Probleme besprochen: Jemand hat geklaut, ganz alltäglich, wie geht man damit um. Was konkret kann man bei Ihnen lernen?
Helle Jensen: Wir unterrichten in drei Modulen über mehrere Jahre. Wir fangen mit den Erwachsenen an. Da geht es erstmal nur darum, für die Pädagoginnen und Pädagogen zu sorgen. Sie sollen sich selber freundlich wahrnehmen. Uns hat es sehr überrascht, dass viele Lehrkräfte gesagt haben: Es ist das erste Mal, dass Menschen sich für uns interessieren: „Wie geht es Dir, wenn Du in einer schwierigen Situation mit einem Kind bist?“ In so einer Beziehungskonstellation fangen wir mit dem wichtigsten Faktor an – das ist die Lehrperson. Was passiert mit Dir, wenn der Junge das fünfte Mal in der Woche nicht seine Hausaufgaben gemacht hat? Wie reagierst Du? Meist reagieren Lehrende mit einem Automatismus. Es geschehen viele unbewusste Sachen, die für die Weiterführung der Stunde nicht günstig sind. Wir führen Dialoge über solche Momente, die schwierig waren.
der Freitag: Sie machen auch kleine Achtsamkeits-Übungen: Treppensteigen, Gangwechsel, sich morgens zehn Minuten Zeit für sich nehmen…
Helle Jensen: Wie geht es meinem Körper, wenn ich unter Druck bin? Meiner Kreativität? Kann ich neue Ideen bekommen? Das ist im Klassenraum sehr wichtig, denn es läuft selten so, wie man es geplant hat. Wenn wir unter Druck sind, verlieren wir diese angeborenen Fähigkeiten. Pädagogen und Pädagoginnen sollen sich dessen bewusst werden.
Christine Ordnung: Wenn der Junge wieder stört, spüre ich Ärger, der macht meinen Kiefer eng, vielleicht mache ich sogar eine Faust, atme schlechter. Und ich verliere die Fähigkeit, die Lehrerin zu sein, die ich eigentlich sein will. Es geht um die Fähigkeit, sich wahrzunehmen. Weniger verbissen zu sein. In Berlin habe wir jetzt damit angefangen, bei Erziehern, Lehrerinnen, Sekretärinnen, Pädagogen – alle in der Schule sollen ein ähnliches Herangehen haben.
der Freitag: Das Projekt orientiert sich an dem dänischen Pädagogen Jesper Juul… das Kind soll als ganzer Mensch gesehen werden.
Helle Jensen: Ja, das ist in Dänemark seit langem ein Teil des allgemeinen Unterrichts, der Art wie man die Stunden gestaltet. Noten und Prüfungen so wie in Deutschland haben wir in Dänemark erst später. Es gibt nicht so einen großen Druck, wie es in Deutschland ist: Du musst diese Noten schreiben.
der Freitag: Dieser Widerspruch; hier der Einzelkämpfer, der sich gegen den anderen durchsetzen muss – und das gemeinschaftliche Denken, wie kann das zusammen funktionieren?
Helle Jensen: Es ist eigentlich schade, dass es als Gegensatz gesehen wird. Denn es gibt soviel weltweite Forschung seit 2008. Ein gutes Lernumfeld ist eines, wo Lehrer, Schüler sich mit Respekt und Empathie entgegen kommen. Und du kannst nicht entspannt sein, wenn Du Angst hast, bestraft zu werden oder eine schlechte Note zu bekommen.
der Freitag: Eine Bekannte hat erzählt, dass die Lehrerin über ihre Tochter sagte: „Sie träumt zu viel“. Sie sollte sogar die Schule wechseln, weil sie im Unterricht zu still war. Das schien der Lehrerin dramatisch – statt sich zu fragen, was in dieser Zeit im Kopf der Schülerin vorgeht…
Christine Ordnung: Wir wollen den Pädagogen beistehen, dass sie ihren Blick leicht verändern können. Wie kann der Erwachsene in diesem Moment Zugang zu sich finden? Wir sind mit unserem Projekt jetzt im ersten Fünftel – und die Rückmeldung, die wir jetzt bereits bekommen, sind sehr vielversprechend. Die Kinder lernen am Vorbild der Erwachsenen. Es ist gut, wenn sie offen zeigen, dass sie nicht perfekt sind: „Oh, da war ich laut, das wollte ich nicht“. Dieses Sich-Miteinander-Auseinandersetzen, die Beziehung offener zu leben. Damit es keine Einbahnstraße ist.
der Freitag: Es gibt eine sehr hohe Lehrer-Krankheitsrate – Burn out …
Christine Ordnung: Die Erwachsenen in der Schule haben noch nicht die Erlaubnis, selber als Mensch da zu sein – als müssten sie ihre Persönlichkeit an der Garderobe abgeben, wie ein Neutrum da sein. Und da wird man krank.
der Freitag: Eigentlich absurd, weil man ja weiß, wie sehr Entwicklung über Beziehungen geht, auch zwischen Lehrern und Schülern.
Helle Jensen: Lehrer wollen nicht nur mit Forderungen konfrontiert werden, sondern sie wollen gesehen werden und Anerkennung, genauso wie den Kindern begegnet werden soll.
der Freitag: Mir gefällt der Ansatz, Kindern an der Schule auch Lebenskompetenz beizubringen. In Österreich gibt es das Fach „Glück“, die Franzosen dachten mal darüber nach, das Fach „Liebe“ einzuführen. Da geht es wieder um Beziehungen. Können Sie nochmal an konkreten Situationen erklären, wie man Schülern einen anderen Blick nahebringen kann?
Helle Jensen: Da sind wir wieder beim „Vorbild sein“: Wenn Kindern mit Empathie begegnet wird, dann kommt es von selber. Beispiel: Es gibt einen Konflikt zwischen zwei Schülern, sie haben sich in der Pause gestritten und tragen es in die Stunde. Die Lehrperson will den Kindern helfen, kommt aber meistens als Richter rein: Wer hat diesen Fußball weggeschossen? Wer hat Schuld? Das ist keine Konfliktlösung. Der Erwachsene müsste eine Atmosphäre schaffen, damit die Kinder darüber reden können: „Wie geht es mir in diesem Konflikt?“ Ohne mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. Es geht darum, das Kind dazu zu bringen, sich zu öffnen, von sich zu erzählen. Nicht nur als Richter dabeizustehen.
der Freitag: Welche Rollen spielen Eltern? Viele wollen ihre Kinder einfach nur verteidigen. Sollen die auch geschult werden?
Helle Jensen. Ja, unsere Idee war, Eltern-Kind-Nachmittage zu machen, aber das hat Corona gestoppt. Aber jetzt haben wir unseren Blog auf der Website, da gibt es für die Eltern Beiträge wie man mit der Corona-Situation umgeht. Und die Lehrkräfte müssen es an die Kinder und Eltern weitergeben, an Elternabenden.
Christine Ordnung: Es geht darum, die Lebensweisheit der Kinder anzuerkennen. Jesper Juul hat das sehr deutlich gemacht, indem er gesagt hat: „Wir müssen die fragen, die es in der Schule nicht aushalten. Die Schulverweigerer, die sich auf diese Weise sichtbar machen, indem sie sagen: Das ist kein guter Ort hier für mich“. Wir müssen mit viel Respekt auf sie zugehen und sagen: „Bitte, Ihr seid so klar in eurem Verhalten, was können wir tun, damit ihr in der Schule sein könnt?“ Es brauchen ja alle Kinder das Gleiche, nur manche sehr viel mehr davon. Und wenn sie so deutlich zeigen: „Es geht für mich hier gar nicht“, dann sollten wir uns zusammensetzen und hören, uns wirklich interessieren – dann bekommen wir relevante Informationen.
Helle Jensen: Ja, sich interessieren – ohne Vorwürfe. Das ist ganz revolutionär, wenn man wirklich nur zuhört. Sich interessiert.
der Freitag: Solche Gespräche mit Schulverweigerern, haben Sie damit zu tun gehabt?
Helle Jensen: Ja, viele. Ich suche dann das Gespräch mit der Klasse, mit allen, und interviewe die Kinder, das war immer sehr hilfreich. Oder ich bin in einer Stunde dabei und wir machen so genannte „Time outs“, wo ich mit der Lehrerin rede – vor der ganzen Klasse. Wir reden über sie, wie es ihr geht. Manchmal sagt diese Lehrerin dann: Jetzt würde ich gerne mein Team fragen, und das Team ist dann die ganze Klasse. Diese Gespräche sind offen, da ist niemand Schuld.
der Freitag: Ohne Hierarchien?
Helle Jensen: Doch es gibt diese Hierarchie zwischen Kindern und Erwachsenen, es ist eine asymmetrische Beziehung zwischen ihnen. Aber trotzdem tragen Erwachsene auch eine Verantwortung für ihre Situation.
Christine Ordnung: Ich begleite Gespräche zwischen Lehrern und Eltern und Kindern und unterstütze die Erwachsenen darin, dass sie darüber sprechen, wie es ihnen in der Beziehung zu dem Kind und Jugendlichen geht. Diese persönliche Sprache ist wichtig: Das ist für Dich eine schwierige Situation.
der Freitag: Frau Ordnung, Sie waren eine Weile bei einem französischen Clown, Philippe Gaullier und haben seine Kurse besucht. Was konnten Sie von ihm lernen?
Christine Ordnung: Er ist Schauspielarbeit sehr anarchistisch angegangen, er sagte: Wenn der Mensch spielt, wirkliches Spielen, dann ist er verletzlich, lebendig, dann ist er schön. Und das kann er aus jedem rausholen, er kann jeden auf der Bühne so sichtbar und großartig machen. Er hat uns kurz hingeführt und dann mussten wir es selber finden. Ich habe früher von ihm gelernt, dass ich, wenn ich unterrichte, mich auf keinen Fall langweilen will. Ich muss eine Arbeit so machen, dass ich mich selber immer wohl genug fühle. Er sagte, er hat keine Lust, sich auch nur fünf Minuten in seinem Job zu langweilen.
Dann habe ich bei ihm eine große Menschlichkeit erlebt. Aber für ihn war es immer Kunst. Er sagte: Lasst mich mit Pädagogik in Ruhe. Ich frage mich heute noch: Wie ehrlich bin ich im Moment, wie authentisch?
der Freitag: Und Frau Jensen, Sie hatten eine Begegnung mit dem Dalai Lama.
Er ist ein Teil dieser meditativen Tradition, mit der ich in Dänemark sehr verknüpft bin. Aber den Dalai Lama auf der Bühne mit zehn jungen Leuten zu sehen – es waren Gymnasiasten – , das war schön zu sehen, diese Offenheit, Freundlichkeit, Empathie.
der Freitag: Lehrer sind andererseits trotzdem Autoritätspersonen, sie müssen Nein sagen und Regeln vermitteln.
Helle Jensen: Sie müssen deutlich sein. Für Kinder ist es wichtig, dass sie meine Grenzen spüren können.
Dass ich es ihnen zeige, bis wohin ich mitgehen kann. Ich muss Empathie für den anderen haben und mich selber auch offen zeigen. Es gibt einen Unterschied zwischen autoritär sein und eine persönliche Autorität haben. Wir müssen als Erwachsenen da sein, anwesend sein, ehrlich.
Christine Ordnng: Es gibt im Deutschen einen Begriffswirrwarr zwischen Regeln und Grenzen: Es klingt so einfach, meine eigene Grenze zu benennen und zu vertreten. Viele Erwachsene können ihre eigene Grenze aber nicht spüren. Was traue ich mir heute zu, wie kann ich die Arbeit gestalten, dass es für mich passt. Vielleicht bin ich heute dünnhäutig. Das ist eine große Arbeit, dass die Erwachsenen ihre persönliche und berufliche Integrität finden. Und ihre Grenzen dann auf freundliche Weise mitteilen.
der Freitag: Es gilt eigentlich für uns alle, auch als Eltern. Wie war es in Ihrer Kindheit?
Helle Jensen: Diese alte Gehorsamskultur gab es in Dänemark natürlich auch damals.
Christine Ordnung: Ich erinnere mich an meine Grundschulzeit, 3. Klasse, in der ich einen Lehrer erlebt habe, der sehr geprügelt hat. Es war Ende der 60er-Jahre, er war sicher kriegstraumatisiert. Es war furchtbar für uns Kinder, in der Klasse zu sitzen, in der drei bis vier Jungs täglich Schläge gekriegt haben, aufrecht knien mussten, mit dem Gesicht zur Wand. Das war in Süddeutschland, es hat mich sehr geprägt. Damals war es selbstverständlich, die Eltern waren einverstanden.
Mädchen wurden weniger geschlagen, uns wurde an den Haaren gezogen. Ich war Zeugin und damit im Grunde Mittäterin. Man kann Schule so wunderbar gestalten, davon träume ich viel. Es reicht schon ein anderer Umgangston.
der Freitag: Letzte Frage, es gibt diese Vorstellung, dass Mädchen emphatischer seien als Jungs. Ist das ein Klischee?
Helle Jensen: Ich erlebe es nicht so. Ich war seit 1979 klinische Psychologin in der Schule in Dänemark und ich sehe das nicht so geschlechtsbestimmt. Es hat mehr damit zu tun, wie die Kinder aufwachsen. Welche sozialen Verhältnisse sie prägen.
Christine Ordnung: Dem stimme ich zu, auch wenn wir immer noch sehr geschlechtsspezifische Erziehungsmodelle haben.
der Freitag: Inwiefern?
Es gibt diesen Versuch, wo ein schreiendes Baby auf einem Foto gezeigt wird. Die einen bekamen die Information: „Es ist ein Mädchen“, die anderen: „Es ist ein Junge“. Und dann wurde gefragt: „Welche Emotion zeigt das Kind?“ Die, die wussten, dass es ein Junge ist, sagten: „Es schreit“. Die, die gehört haben, es ist ein Mädchen, sagten: „Es ist traurig.“ Es heißt ja auch, Depression sei eine überwiegend weibliche Krankheit. Aber wenn man Workaholics und verschiedene andere Symptome, die vor allen Dingen Männer haben, mit dazu rechnet, sind die Erscheinungsbilder gleich.
der Freitag: Können Sie die Corona-Folgen in die weiteren Schulungen mit einbeziehen?
Helle Jensen: Ja, anders geht es gar nicht, und unsere Begleitforschung berücksichtigt das auch. Wir machen weiter mit unserem Projekt, bis 2024, das ist eine lange Phase. Es braucht Zeit.
Christine Ordnung: Wir werden sicher weiter mit den Corona-Folgen in Berührung kommen, denn wir hören von den Pädagoginnen ja die konkreten Beispiele aus dem Alltag. Da werden wir sicher der Frage begegnen, was jetzt – nachdem die Kinder so lange zuhause waren – in den Klassen anders sein wird. Und ich hoffe, dass der Fokus nicht nur auf dem versäumten Lernstoff liegt, sondern auch darauf, wie die Kinder es geschafft haben, mit ihren Strategien diese Zeiten zu überleben, und wie sie diese Strategien mit in die Schule bringen. Und wie man sie nicht als verhaltensauffällig abstempeln, sondern würdigen kann: Ja, es war eine lange Zeit, in der ihr alleine klar kommen musstet, ohne Freunde zu sehen – und wie sie diese Strategien dann in die Schule integrieren können.